Ist denn schon alles verloren? Oder der Prophet Jürgen Fuchs

Damit war Jürgen Fuchs nicht allein. Es folgten Siegfried Reiprich in Jena, Wilfried Linke, Gabriele Kachold und andere in Erfurt, weiter Lutz Rathenow, Roland Jahn, Olaf Weißbach, Jena. Im Januar 1976 verlangten die Herren Doctores der marxistisch/leninistischen Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität von mir, ihrem 20-jährigen Studenten, mich öffentlich von Jürgen Fuchs los zu sagen und zu der Frage Stellung zu nehmen, wie ich als zukünftiger Philosoph das sozialistische Bewußtsein in die werktätigen Massen hineinzutragen gedenke. Den dschugaschwilischen Ritus von Kritik und Selbstkritik jedoch verweigernd, rezitierte ich statt einer Antwort sein Gedicht, solidarisierte mich und fragte: "Ist denn schon alles verloren?"

IST DENN SCHON ALLES VERLOREN
Wenn einer abwinkt, der in meinem Sessel sitzt
Und im Keller einer Großhandelsgesellschaft Butter stapelt:
Meine Gewerktschaft? Abwinkt und lächelt

Ist denn schon alles verloren
Wenn zwei mit ihren Fingern an ihre Stirn zeigen
Und meinen Tee trinken, der eine verlegt elektrische Leitungen
Der andere Heizungsrohre: unsere Partei?
Mit ihren Fingern an die Stirn zeigen und schweigen

Ist denn schon alles verloren
Wenn sie mich ansehn wie ein gläubiges Kind:
Unser Eigentum, unsere Betriebe? Ansehn wie ein gläubiges Kind
Das nicht mehr zu retten ist

Da hatte das Sowjetimperium noch gut ein dutzend Jahre... Dies Gedicht statt eines Kniefalls im Frühjahr1976 war mein persönlicher Kairos - wichtigste Entscheidung des Lebens. Und sie war ja nicht billig: Verurteilung zum "Ausschluß vom Studium an allen Hoch- und Fachschulen der DDR", Hilfsarbeiterjahre - meine Universitäten -, mehrfach Verhaftungspläne, statt dessen aber Spitzelverdacht, Rufmord - ausgerechnet die hochentwickelte Vorsicht des eingekerkerten Freundes Jürgen, den ich liebte wie einen älteren Bruder, versuchte die Stasi zum Messer zu machen, das mein treues Herz treffen sollte - und ich wünschte manchmal, endlich verhaftet zu werden. Doch es folgten "Zersetzung", Ausbürgerung, weitere Stasi-Verfolgung auch im Westen, bis 1989.

Aber eines sage ich nach einem Vierteljahrhundert: dieses Gedicht, dieser Jürgen Fuchs, der gemeinsame Traum, der nicht entführbar ist, war all dies wert. Wir durften erleben, wie 1989 die angepaßte Mehrheit ihre symbiotische Bindung an die diktatorische Minderheit aufkündigte und sich für einen historischen Augenblick revolutionärer Glückseligkeit mit uns, der winzigen oppositionellen, emanzipatorischen Minderheit verbündete. Dies ist Lichtjahre her. Nicht nur Sklavenhalter blieben, auch "unsere Menschen" kehrten zurück. Und 1996/97 sagte Jürgen Fuchs: "Wir haben verloren". Ja, Jürgen, gegen die Partei mit dem irreführenden Namen und dem schlauen Spitzel an der Spitze, gegen die doppelten Verdrängungsstrategen in Ost und West, gegen die Impotenz auch westlicher Herzen. Aber: Ist denn schon alles verloren? Die Antwort lautet: Erinnerung provozieren!

Wie die Dissidenten der Bibel, wie der Prophet Jürgen Fuchs. Denn die Menschen haben sich nicht verändert - seit Moses.

Vielen Dank.

Anmerkung:
Dieser Text korrespondiert mit Gedanken von Hannes Stein, Lenin, Ulrich Schacht, Wolf Biermann, Heinz Brandt, Günther Kunert, Erich Fromm, Bob Dylan - und natürlich Jürgen Fuchs.

© Siegfried Reiprich

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