Jürgen Fuchs, der bedeutendste Bürgerrechtler der DDR

Die Leiden des Jürgen Fuchs und das Schweigen der Täter

Jürgen Fuchs war eine tragische Figur. Nicht im banalen Sinne des Scheiterns. Nicht als Folge von Selbstüberhöhung und Weltverlust. Nicht als ein Mann, über den die Zeiten unaufhaltsam hinweggegangen sind, der Mahner blieb, wo kaum mehr jemand ermahnt werden wollte. Sondern als Held. Keiner in strahlender Siegespose. Auch damals nicht, als das System, dem er sich widersetzte, zusammenbrach. Eher als Opfer, das er blieb, auch als es die DDR schon längst nicht mehr gab.

Jürgen Fuchs wusste darum. Wusste, dass ihn das Spitzelsystem der Stasi lebenslänglich infiziert hatte, dass er das böse Gift der Zersetzung auf ewig in sich trug, das Trauma der Diktatur, die inneren Brandzeichen, die sie in den Seelen ihrer Opfer hinterlassen hatte. Jürgen Fuchs hat dies alles am eigenen Leib erfahren und er hat es dokumentiert. Schmerzhaft genau. Darin bestand seine Authentizität. Und daran ist er wohl auch gestorben.

Es wird eine viel zu simple Legende bleiben, dass die Stasi am Ende noch den Sieg über ihn davongetragen habe. Dass er womöglich mit 48 Jahren doch an den Spätfolgen jener subtilen Torturen starb, denen er 1976 nach Wolf Biermanns Ausbürgerung in Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen ausgesetzt war. Damals wurde er mit Röntgenstrahlen traktiert. Eine Liquidationsmethode mit „hohem Verschleierungspotential durch spät einsetzende unspezifische Initialsymptomatik", wie es in einem entsprechenden Forschungsbericht der Ostberliner Humboldt-Universität zehn Jahre später hieß. Fuchs hat diese Methode in seinem letzten Roman „Magdalena" dokumentiert. Wie er starben zuvor auch Rudolf Bahro an Krebs und der Liedermacher Gerulf Pannach. War die Zersetzung von Staatsfeinden, wie sie Mielkes Apparat praktizierte, ganz wörtlich gemeint? Hochtechnisch vorbereitet und exekutiert?

Selbst wenn sich diese furchtbare Geschichte bewahrheiten würde, träfe sie dennoch nicht den Kern der modernsten Form von Gewalt, gegen die Fuchs Widerstand zu leisten versuchte und auf deren Fortbestehen er immer wieder und immer ungeduldiger hinwies: eine Gewalt, die sich längst vom Physischen gelöst hatte und deren eigentliches Ziel die Psyche der Menschen war. In einem so grandiosen wie entsetzlichen Selbstversuch hat sich Jürgen Fuchs der Zersetzung und Zerstörung des Subjekts unter den Bedingungen einer totalitären Gesellschaft ausgesetzt. Hat ihre Wirkung protokolliert und Antigene der Erinnerungskraft dagegen zu entwickeln versucht.

Dabei war sein wohl größtes Problem, dass zu der Lautlosigkeit der Taten das Schweigen der Täter kam. Und jene merkwürdige kollektive Amnesie, die uns vergessen machen will, was kaum mehr als zehn Jahre zurückliegt.

Ein Schriftsteller wie Jürgen Fuchs störte bei der Entsorgung der Erinnerungen. Ach weil er nervte, weil er allen Versuchen Einhalt gebot, sich die Dinge nachträglich schön zu reden. Weil er grausam genau hinhören konnte und dann etwas hölzern unzeitgemäß seine Verdikte sprach. Er war wie die Verkörperung unseres kollektiven schlechten Gewissens. Von einer bohrenden Präzision, mit der er sich allen Ausflüchten in den Weg stellte. Vor allem jenem vernünftelnden Pragmatismus, der den Lauf der Dinge nimmt, wie er kommt.

Natürlich wirkte in Fuchs der moralische Rigorismus der Bekennenden Kirche nach, den die Großmutter vertrat. Und die deutsche Schuld dieses Jahrhunderts hat er als seine ganz persönliche, eigene verstanden. Aber er war nie nur jener reine, absolute Leidensmensch, als den ihn seine Gegner, seine Feinde abzustempeln versuchten. Jürgen Fuchs sah seine Diktaturerfahrung als ganz handfeste Waffe an, hielt nicht im Trauern inne, sondern wollte sie der Politik ganz praktisch zur Verfügung stellen. Sein Kampf war nicht rückwärts gewandt. Er verstand ihn als „Diktaturprävention", wie es sein Freund und Weggefährte Manfred Wilke nannte. Aktive Folterforschung bedeutetete für den gelernten Sozialpsychologen, den die Universität Jena einst religiert hatte, nicht nur Therapie, sondern Früherkennung. Er hat sich um Opfer im Iran und in Südafrika gekümmert. Aber immer wieder war es das eigene Erbe zweier Diktaturen, das ihn umtrieb. Nicht als Stoff für den Schriftsteller, sondern in der Wahrnehmung des Virulenten, noch nicht Bewältigten. Die DDR war eben nicht nur der andere deutsche Staat mit anderen Lebensläufen und Milieus. Sie war eine Dikatur mit einer durchherrschten Gesellschaft. Das hat er den Westdeutschen ­ auch in der Gauck-Behörde ­ unnachgiebig vorgehalten. Nicht die äußerliche Gewalt war das eigentliche Verbrechen des SED-Regimes; nicht die Mauer oder die Verwüstung der Ressourcen. Es war die Zerstörung von Seelen auf Generationen hinaus. Davon wollte Jürgen Fuchs Zeugnis geben. Bis zuletzt.

© DIE WELT, 11. 05. 1999

Zurück

Cookie-Einstellungen zurücksetzen