Zu den Mechanismen ideologischer Disziplinierung an DDR-Universitäten

IV. Gesinnungsverbrechen zum zweiten: "Aussprache", schriftliche Stellungnahme, Vorverurteilung - der Exmatrikulationsantrag als scheindemokratischer Akt

"Aussprache" ist ein DDR-Unwort, ein Euphemismus. Ein der Abweichung verdächtiger Student wird bestellt. Nach Dienstschluss, in ein Hinterzimmer. Er ist allein, die Ankläger mindestens zu zweit. Sie sind doppelt so alt wie er, mit Doktortiteln bewehrt, gebildet, wissen viel mehr, sind rhetorisch ausgebildet. Sie haben Hintergrundinformationen. Er ahnt nur, was sie wollen: "Du, die wollen mich exen", hatte ich zu meiner Liebsten gesagt, als ich nach Neujahr 1976 die mündliche Vorladung bekam. Und sie haben Macht. Sie können mehr, als nur aus einer Uni rausschmeißen lassen, sie können von allen Studiengängen an allen Unis ausschließen. Für immer, in einem kleinen Land, aus dem man nicht wegkommt. Und sie können die Geheimpolizei informieren.

"Aussprache" ist ein Ermittlungsverfahren ohne Öffentlichkeit und ohne Verteidiger.

Die Ironie der Geschichte ist, dass ich u.a. mich von Jürgen Fuchs distanzieren sollte, der solche Situationen in seiner Prosa "Vorverhöre" genau beschrieben hatte. Ähnlich wie er versuchte ich, Öffentlichkeit herzustellen und schrieb sofort danach ein Gedächtnisprotokoll. Hier ein Auszug aus "Der verhinderte Dialog".

6. Januar 1976
Ort: Universitäts-Hochhaus, 21. Obergeschoß, Sektion Philosophie

Anwesende: Dr. Berg, Direktor für Erziehung und Ausbildung der Sektion Philosophie;

Dr. Höfer, Seminargruppenbetreuer Leiter des ersten Studienjahres;

vorgeladen: Siegfried Reiprich, Student der Philosophie im ersten Studienjahr.

Dr. Höfer: Es geht kurz gesagt um folgendes: auf der Berichtswahlversammlung der Parteiorganisation hat jemand einen Diskussionsbeitrag gehalten, wobei Ihr Name fiel, im Zusammenhang damit, dass jemand vom neulobedaer Lyrikzirkel gesagt habe, man müsse mal probieren, wolle sehen, wie weit man an der Sektion Philosophie diskutieren, bzw. gehen könne... Wir wollen eben von Ihnen einmal erfahren, was da war, mit diesem "Arbeitskreis", wie Sie dazu stehen. Auch zu den Gedichten von Fuchs, der ...dort gelesen hat...

Dr. Berg: Das ist aber nur der Anlass, da ist noch etwas anderes. Es wurden von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Stadt Jena, der ersten Leitungsebene der Universität und der staatlichen Leitung Anfragen an uns gerichtet, inwieweit, hm, denn bei Herrn Reiprich noch die Bedingungen für ein Philosophiestudium gegeben seien"...

Dr. Berg: Wir wissen ja, wie es '56 in Ungarn angefangen hat und '68 in der CSSR! Dieser Arbeitskreis hat unter den Intellektuellen dieser Stadt Staub aufgewirbelt. Biermann, ein ausgewiesener Konterrevolutionär, sollte dort singen. Es wurde noch verhindert, er sang dann in einer Wohnung. Wollen Sie den auch noch verteidigen?

S. Reiprich: Woher soll ich denn seine Gedichte eigentlich kennen? Da müssen Sie schon was vorlegen!

Dr. Berg: Das weiß ich doch nicht. Und was Fuchs betrifft: also wir haben Vertrauen in die SED-Organisation, die Genossen der Psychologie, zwei Etagen tiefer. Das war ja schließlich ein Parteibeschluß. Was haben Sie denn da ständig zu diskutieren und zu bezweifeln? Sie haben wohl auch so eine skeptizistische Einstellung?...

S. Reiprich: Ich habe diejenigen Gedichte, die ich kenne, nicht unter dem Aspekt gelesen, was daran Anstoß erregen könnte, sondern ganz normal eben, wie jeder normale Mensch, und ich konnte nichts Antisozialistisches darin sehen. Und ich halte es nach wie vor nicht für gerechtfertigt, jemanden deshalb auszuschließen und zu exmatrikulieren.

Dr. Höfer: (triumphierend) Das genügt uns ja schon!

Dr. Berg: (ebenso) Mehr wollten wir ja gar nicht wissen!...

Dr. Berg: Sie haben einen öffentlichen Bericht über eine sogenannte "Spitzelanwerbung" durch das MfS gegenüber der FDJ-Leitung gegeben.

Dr. Höfer: (außer sich) Spitzel! Spitzel! Die gab es in der Nazi-Zeit, Leute, die die Antifaschisten denunzierten! Oder drüben beim Bundesverfassungsschutz, die Berufsverbote initiieren. Und Sie diffamieren so unsere Sicherheitsorgane!

Dr. Berg: (wehleidig) Die Organe hatten Vertrauen zu Ihnen. Sie dachten, das ist ein junger Mensch, dem wir Vertrauen schenken können. Sie haben das Vertrauen missbraucht.

Dr. Berg: Sie haben gegenüber der Leitung behauptet, Ihnen sei zugemutet worden, ihre Freunde zu bespitzeln und damit vor den Augen der Jugendfreunde die Staatssicherheit diffamiert.

S. Reiprich: Aber warum hat man mir ein materielles Angebot gemacht? Warum versuchte man nicht, mich zu überzeugen?

Dr. Höfer: Weil die Genossen der Staatssicherheit eben überall in der Bevölkerung mit allen Mitteln arbeiten müssen. Das ist doch die Sache der Genossen, Sie wollen sie wohl belehren?

Dr. Berg: Also, ich würde mir da sagen, dass diese Genossen schon wissen, was richtig ist.

S. Reiprich: Aber wo ist denn hier der Klassenfeind? Das waren doch alles harmlose junge Leute, die hier aufgewachsen sind.

Dr. Höfer: (lacht) Ja wo ist denn Dubcek aufgewachsen? ...

Dr. Berg: Also man muss schon sagen, Herr Reiprich, wenn Sie so weiter machen, sind sie bald eine M ä r t y r e r !...

Danach wurden Partei und FDJ verständigt und die Seminargruppe, die identisch mit der FDJ-Gruppe war, zu einer Versammlung am 16. Januar 1976 zusammengerufen. Gäste und de facto Regisseure waren Dr. Berg und Dr. Höfer, die Leitung hatte Peter Koch, SED, stellvertretender FDJ-Sekretär der Seminargruppe.

Ich hatte eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Verlangt wurde Antwort auf die Frage, wie ich gedenke dem Absolventenbild eines Propagandisten des Marxismus-Leninismus gerecht zu werden etc., sowie eine klare Distanzierung von Person und Werk des fünf Jahre älteren Jürgen Fuchs, der schon als verfestigter Feind ausgemacht und aus Partei und Universität ausgeschlossen worden war. Ich entschied mich gegen einen unwürdigen Kniefall und für den "Versuch, in der Wahrheit zu leben". Von dem, was ich dachte, wollte ich soviel wie nötig sagen, aber möglichst schwer angreifbar sein. Deshalb kam es darauf an, "legale" Schriftsteller zitieren, die halboffenen Kontroversen der neuen Kulturpolitik einzubeziehen. Außerdem würde ich mich bei Bedarf auf die westeuropäischen Eurokommunisten, die bürgerliche Freiheiten auf ihre Fahnen geschrieben hatten, berufen.

Die Überschrift der Stellungnahme bezog sich auf einen Schlüsselbegriff der dialektischen Philosophie, den Widerspruch; ich würde den Heiligen der Dialektik, Bert Brecht, in´s Feld führen. Und es sollte auf die Sinnlosigkeit intellektueller Tabus verwiesen werden: ungelöste Widersprüche, oder sagen wir schlicht Probleme, spitzen sich zu. Nicht der Bote ist für die schlechte Nachricht verantwortlich, Tabuisierung bedeutet Verschlimmbesserung, und eine denunziatorische Diskussionsweise, die auf politisch inkorrekte Reizwörter nur mit Pawlow'Scher Reflexen zu reagieren vermag, führt in´s Desaster. Angesichts des heutigen intellektuellen Klimas in Deutschland erscheint es mir gerechtfertigt zu sein, die vor 23 Jahren im Studentenwohnheim "Salvador Allende" vorgetragene "trotzkistisch-anarchistische, staatsfeindliche Plattform" ungekürzt zu zitieren.

Wie können Widersprüche bewältigt werden?

Bevor wir zu den gegen mich gerichteten Vorwürfen kommen, möchte ich auf Vorschlag der FDJ-Leitung und der Parteigruppe zu folgendem Problem meine grundsätzliche Haltung darlegen: auf welche Art und Weise muss man allgemein und muss Literatur im besonderen an Widersprüche, Probleme in der Wirklichkeit herangehen, wie können sie gelöst werden und wie müssen wir als zukünftige Philosophen und Propagandisten des Marxismus-Leninismus in dieser Frage auftreten? Mir wurde vorgeworfen, dass ich nur krittele, ich möchte klarstellen, dass es um Kritik geht und was ich darunter verstehe. Die Existenz von Widersprüchen in der Wirklichkeit, in unserer Wirklichkeit, ist kein Grund zur Beängstigung. Beängstigend wird es erst, wenn man vor ihnen davonläuft... "Widersprüche sind Quelle der Bewegung, Triebkraft der Entwicklung", sagen wir, "Widersprüche sind Hoffnungen", meinte Brecht - Hoffnungen auf Lösung, auf Bewältigung! Wie soll man nun an die Sache herangehen? Ich meine, die unabdingbare Voraussetzung zur Lösung eines Problems, ist die völlige, illusionslose Klarheit über das Problem selbst. Dazu ist es unumgänglich, die Dinge so hart zu sagen, wie sie sind, ohne Schminke und Schönfärberei. Man muss eine Sache auch unmissverständlich als negativ darstellen und zwar ohne 'zig "positive Gegenbeispiele", um die es jetzt ja gar nicht geht, die den Blick auf das Problem nicht hin- sondern weglenken, was eben nicht zur erforderlichen Lösung beiträgt. Dies gilt für die Wissenschaft und auch für die Kunst, für Literatur! Um meine Haltung zu den Arbeiten von Jürgen Fuchs wird es heute ja noch gehen, ich möchte deshalb ein Gedicht von ihm zur Veranschaulichung des eben Gesagten anführen:

IST DENN SCHON ALLES VERLOREN
Wenn einer abwinkt, der in meinem Sessel sitzt
Und im Keller einer Großhandelsgesellschaft Butter stapelt:
Meine Gewerkschaft? Abwinkt und lächelt
Ist denn schon alles verloren
Wenn zwei mit ihren Fingern an ihre Stirn zeigen
Und meinen Tee trinken, der eine verlegt elektrische Leitungen
Der andere Heizungsrohre: unsere Partei?
Mit ihren Fingern an die Stirn zeigen und schweigen

Ist denn schon alles verloren
Wenn sie mich ansehen wie ein gläubiges Kind:
Unser Eigentum, unsere Betriebe?
Ansehen wie ein gläubiges Kind
Das nicht mehr zu retten ist


Jeder, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, weiß doch, worum es hier geht, was hier angesprochen wurde. Jedem, der es ernst meint mit dem Sozialismus, muss doch die Lösung dieses Problems am Herzen liegen! Nicht einzelne, sondern viele, viel zu viele junge Arbeiter, Lehrlinge, ältere Arbeiter und Arbeiterinnen denken und fühlen so. Warum denn solches Bewusstsein, welcher Widerspruch verbirgt sich im tieferen Wesen dieser Erscheinung? Ist dies nicht ein Kardinalproblem unserer Gesellschaft? Solche Fragen stellt dies Gedicht, auf solche schlimme Dinge macht es aufmerksam! Die Antwort liegt bei uns, der Ausweg, das ist unser Engagement für den Sozialismus, unser Drängen, solchen Dingen auf den Grund zu gehen. E i n Gedicht kann jedoch nicht leisten, was nur das ganze Leben, die Gesellschaft selbst leisten kann. Sicher wird jetzt mancher einwenden: A b e r ! Wenn Leute mit ungenügendem Bewusstsein so etwas lesen, hat das nicht unüberschaubare destruktive Wirkungen? Werden da manche in ihrer negativen Stimmung nicht nur noch bestärkt; und überhaupt der Klassenfeind, der uns jeden Erfolg missgönnt, wird der sich nicht die Hände reiben vor Freude, wenn er so etwas vorgesetzt bekommt? Darf man denn sooowas in die Öffentlichkeit bringen? Ob man darf? Man muss! Der Klassenfeind, das hat zum Beispiel auch Franz Fühmann auf dem Schriftstellerkongreß im November '73 unmissverständlich gesagt, der Klassenfeind nämlich redet überall da, wo wir schweigen! Was nützen denn da Tabus! "Tabuierung ist immer die unpraktischste Lösung, schon deshalb, weil sie sich selbst nicht wahrhaben will. Denn Tabus rühren nicht von Einschränkungen her, die wir uns bewusst und öffentlich auferlegen aus bestimmten taktischen Erwägungen, sondern von unausgesprochenen, schleichenden, geradezu abergläubischen Übereinkünften, deren E r k l ä r u n g schon nicht mehr genehm ist. Tabuierung bedeutet: den Kopf in den Sand, den man, nach ihr schnappend, Luft nennt...". Volker Braun, der dies in seinem unlängst im Reclam-Verlag erschienenen Buch "Es genügt nicht die einfache Wahrheit" schrieb, meint, wir müssten, wenn es Tabus gibt, uns ihnen stellen, "und einigermaßen aufrecht alles a u f u n s n e h m e n", d.h. z.B. ihre Existenz offen zugeben. Neu sei aber, dass die Existenz unserer Gesellschaft nämlich "nicht an Tabus gebunden ist". Das meine ich auch. Dieses den Kopf-in-den-Sand-stecken jedenfalls nützt doch gerade dem Klassengegner: denn gerade weil er uns jeden Erfolg missgönnt, missgönnt er uns auch die erfolgreiche Lösung von Widersprüchen, die von Tabus behindert wird, und andererseits bietet die Existenz der Tabus ihm die Möglichkeit, unsere sozialistische Demokratie zu diffamieren. Aber, und hier kommen wir zu der Frage, wie wir als zukünftige Marxisten-Leninisten unsere Weltanschauung propagieren müssen, wie ist das mit dem "zu niedrigen Bewußtseinsstand, den viele Werktätige noch haben"? "Das Wehklagen über das zurückgebliebene Bewusstsein der Massen ist töricht... Da wird immer wieder das Bewusstsein als eine Sache an sich betrachtet, die einer zu haben hat und verabreicht bekommt. Bewusstsein war aber immer eine sehr praktische Angelegenheit, eine Sache der Praxis. Nur durch stärkeres praktisches Beteiligtsein am politischen Prozess wird auch das ideelle Beteiligtsein stärker. Staatsbewusstsein kann sich nur gut entwickeln i m Mitverfügen über den Staat, es wird mächtiger, je mehr die Bürger direkt und dadurch bewusst Macht ausüben (Entscheidungen mit finden und mit vollziehen). Es wäre also nicht das Zurückbleiben des politischen Bewusstseins zu beklagen, sondern das Zurückbleiben der politischen Massenhandlungen: dann käme man, und massenhaft, eher darauf, nach den objektiven Ursachen zu fragen, die Klagen hinunterzuschlucken und aufzustehen zu Tätigkeiten." - Und eben darauf wird es für uns ankommen! Wir werden eben von der Praxis, von den Arbeitern lernen müssen: unsere Theorie stimmt eben nur insofern, als sie deren Erfahrungen e r k l ä r t (nicht ignoriert). Wir sind nicht die fortschrittlichen, bewussten Hirten, die die armen, unbewussten Schäfchen zu hüten haben. Wenn wir dies nicht beachten, werden wir es bestenfalls zum Monolog, nicht aber zum Dialog mit der Arbeiterklasse bringen. Und nun noch zum letzten Einwand: dass nämlich solche Gedichte wie die von Jürgen Fuchs "negative Stimmungen nur schürten" und "keinen Ausweg" zeigten. Zunächst müsste man erst mal fragen, woher denn diese "negativen Stimmungen" überhaupt kommen. Und dann: Sollten wir nicht mal gründlich darüber nachdenken, wie deprimierend es auf einen Menschen wirken muss, in welche negativen Stimmungen er geraten muss, wenn er solche Dinge, wie sie Jürgen Fuchs literarisch gestaltet hat, nicht liest, nein! sondern e r l e b t ! "Dieser Auffassung von Literatur", sagte Franz Fühmann auf dem Schriftstellerkongreß '73, "liegt ein merkwürdig animistischer Glaube zu Grunde, der nämlich, dass Gleiches durch Gleiches verursacht werde: Mut durch das Verspeisen eines Löwenherzes, Feigheit durch das Essen eines Hasenherzes und also auch Schwermut im Leben durch Schwermut in der Literatur und Frohsinn in allen Lebenslagen durch Frohsinn in den Büchern oder besser: durch das, was sich oder was der Kritiker so für Frohsinn hält. Abgesehen davon, dass hier das Verhältnis von Literatur und Leben auf dem Kopf steht, geht es auch im Leben gewöhnlich nicht so zu, dass Leid dadurch überwunden wird, dass einer möglichst schallend lache, sondern dadurch, dass es geteilt wird, dass der zu Boden Gedrückte erfährt, dass auch anderen solche Last auferlegt ist und andere sie bewältigt haben - zum Beispiel durch Artikulation im Gedicht, nicht durch Proklamation ihrer prinzipiellen Bewältigbarkeit. Gerade diese Menschenhilfe ist ein Wesenszug der Literatur...". Und gerade darum geht es Jürgen Fuchs, z.B. in den "Vorverhören", auch. Nur ein kaltherziger oder oberflächlicher Mensch kann spöttisch oder verächtlich darüber hinwegsehen. Ich meine also, dass wir die ungeschminkte Wahrheit über unsere Wirklichkeit brauchen, wie das tägliche Brot. Ich möchte noch einmal Volker Braun, der ebenso wie viele hier unter uns Genosse ist, zitieren. Nicht weil ich das für einen Beweis hielte, sondern weil er klar zum Ausdruck gebracht hat, was auch ich denke! Er spricht über Geschichte, und wir sollten bedenken, dass natürlich alles, was hier und heute geschieht, Geschichte ist: "Es ist notwendig, dass wir uns gegenüber der Geschichte völlig aufrichtig verhalten, nichts verschweigen, jeden Irrtum zugeben, sobald er erkannt ist, uns dem vollen Umfang der Ereignisse stellen, wenn auch der Schutt unserer Eitelkeit sie zu verdecken droht. Wenn wir nicht mit der Geschichte leben, wird sie gegen uns leben. Statt die Geschichte im Nachhinein zu korrigieren, wollen wir die Mühe verwenden, die Zukunft zu korrigieren. Wer nicht wagt, über alles die volle Wahrheit zu sagen, hat kein Recht, Genosse zu sein. Denn seine Feigheit zeigte nur sein Misstrauen gegenüber der Geschichte, das heißt gegenüber dem Volk." Gestattet mir bitte zum Schluss noch eine Bemerkung: Ich sage dies alles, weil ich einfach nicht anders kann, weil ich es sagen muss. Wer Überzeugungen hat, wechselt sie nicht wie ein Hemd. Ich sage dies alles im vollen Bewusstsein der Konsequenzen, die möglicherweise daraus entstehen. Nicht das Geringste kann mir daran liegen, hier den Märtyrer zu spielen, alles liegt mir daran, hier studieren zu können. Aber auch wenn ich eingeschüchtert und erpresst werden sollte: nichts und niemand wird mich daran hindern, die Wahrheit laut und deutlich auszusprechen, die ich meines Erachtens meiner Mitgliedschaft in einem sozialistischen Jugendverband und unserem großen Ziel, dem Kommunismus, einfach schuldig bin!


Zu einer spontanen Diskussion solcher Gedanken eines Idealisten, der den DDR-Sozialismus vor der Dummheit seiner Machthaber retten wollte, war man nicht fähig. Was an "Diskurs" zustande kam, wurde von den "Gästen" Berg und Höfer, sowie den SED-Studenten dominiert. Arbeiten von Fuchs wurden verlesen, die Mehrzahl der Gruppe schwieg, ich verweigerte weiter eine Distanzierung. Und wurde aus der FDJ-Leitung der Seminargruppe ausgeschlossen - ironischerweise war ich bis zum diesem Zeitpunkt Sekretär für Agitation und Propaganda gewesen. Von den Vorbereitungen auf diese Versammlung war ich jedoch selbstverständlich ausgeschlossen worden. Man beschloss, eine zweite Versammlung nach der vorlesungsfreien Zeit Ende Februar einzuberufen, auf der über meine politische Exmatrikulation entschieden werden sollte.

In der Zwischenzeit mussten Sekretärinnen die staatsfeindliche Plattform mühsam vervielfältigen, Abschriften von Abschriften herstellen und gleichzeitig aufpassen, dass diese nicht in unbefugte Hände gerieten. Ich versuchte dagegen, bescheidene Öffentlichkeit herzustellen, in dem ich Gedächtnisprotokolle der FDJ-Versammlung (ich hatte Notizen machen können), meines Pamphlets und der ersten Aussprache mit Berg und Höfer mit Durchschlag abtippte und verteilte, sie auch nach Grünheide bei Berlin schickte, wo nun Jürgen Fuchs bei Robert Havemann lebte. Sie luden mich ein, Robert versicherte seine Solidarität, Wolf Biermann gab zur Ermutigung (und Übung eines verbotenen Sängers) ein mehrstündiges Privatkonzert, und Jürgen Fuchs schrieb einen Brief an den Parteigruppenorganisator Obst, der in Jena "einschlug wie eine Bombe":


Grünheide, 21.2.1976 Lieber Hans-Joachim Obst,
heute besuchte mich Siegfried Reiprich, und ich erfuhr, dass Du mit ihm zusammen studierst. Er berichtete mir ausführlich von den fatalen Vorgängen an eurer Sektion, von dem Versuch, gegen ihn ein Ausbildungsverbot zu verhängen. Ich hatte gehofft, dass die Entgleisungen einiger Funktionäre in Jena doch Seltenheitswert besitzen und nicht unbedingt gleich frisch und fröhlich wiederholt werden. Sollte ich mich geirrt haben?
Erfreulich ist, wie sehr sich diese Universität um die Verbreitung meiner Arbeiten bemüht: Sie werden gelesen und diskutiert - nur schade, dass dies bisher in meiner Abwesenheit geschehen ist. Vielleicht wird Dich in diesem Zusammenhang interessieren, dass sich z.B. Günter Kunert, Christa und Gerhard Wolf, auch Volker Braun, anerkennend über meine Arbeiten geäußert haben. Aber wie auch immer: All das, was mir Siegfried erzählte, ist natürlich wenig erfreulich. Dennoch glaube ich, dass Menschen wie Du einfach nicht zulassen werden, dass unser Staat erneut durch verfassungswidrige Absichten (Exmatrikulation wegen freier Meinungsäußerung, Verfassung, Artikel 27) diskreditiert wird. Sie werden nicht zulassen, dass die hysterische Verteuflung eines suchenden jungen Menschen, der sich zum Marxismus bekennt, zuwege bringt, ihn existentiell zu bedrohen und politisch zu erpressen. Sie werden nicht vergessen, dass wir in einem sozialistischen Land leben, und dass es, im Gegensatz zur Stalin-Zeit, nicht mehr möglich ist, solche Taten im Verborgenen zu begehen.

Mit freundlichem Gruß

gez. Jürgen Fuchs

An die geneigten Leser sei noch einmal die Bitte gerichtet, ob solcher Naivität nicht die Nase zu rümpfen, die Dinge nicht mit dem Wissen von heute im Hinterkopf zu beurteilen. Noch saß Fuchs nicht im Gefängnis, Havemann nicht im Hausarrest, Biermann war nicht ausgebürgert, sondern ein Abdruck wenigstens seines Ché-Guevarra-Liedes wurde erwogen. Wir meinten, dass diese Taktik praktischer Solidarität mich zumindest vor dem Gefängnis schützen konnte, was ja auch klappte (das MfS griff jedoch zu anderen, zu "Zersetzungsmaßnahmen").

An der Sektion Philosophie in Jena versuchte man, die "philosophische Plattform" einzuordnen, diagnostizierte einmal "Skeptizismus", dann wieder "anarchistischen Existenzialismus". Man hatte das Eindringen feindlicher Positionen, ja ideologische Diversion, aufgedeckt und damit Übungsmaterial aus erster Hand. (Wie Olaf Weißbach berichtete, mussten spätere Jahrgänge sich daran im Seminar argumentativ schulen.) Nun galt es, auf der für den 25. Februar 1976 anberaumten FDJ-Versammlung die Nachwuchsphilosophen im Erlegen feindlicher Ideologie-Mäuse zu schulen, wie junge Katzen von der Mutter geschult werden. Auch deshalb mag soviel Aufwand getrieben worden sein, und nicht nur wegen der Notwendigkeit formaler "Demokratie".

Diese Versammlung ist gut vorbereitet. Linientreue Studenten und Studentinnen, besonders die SED-Mitglieder, halten ausgearbeitete "Diskussionsbeiträge". Die Mehrheit jedoch schweigt. "Wenn ich dich verteidige, bin ich der nächste, der fliegt", so Klaus Birkholz zuvor. Wieder dirigieren EAW-Direktor Berg und Studienjahresbetreuer Höfer. Als der Beschuldigte nach drei Beiträgen bezüglich der o.g. Stellungnahme auf die Argumente der Kommilitonen eingehen will, unterbricht der Parteigruppenorganisator:

Hans-Joachim Obst: Ja, ich muß den Antrag stellen, Siegfried das Wort zu entziehen! Denn wir haben nicht mehr die Zeit und auch einfach nicht mehr die Lust, hier mit Siegfried ellenlange Diskussionen über seine antisozialistische Haltung zu führen, wozu schon genug Zeit war. Er hat ja immer noch nicht gelernt! Er macht ja immer weiter so!

Statt des Beschuldigten kommt nun Jugendfreund Dirlam zu Wort:

Wolfgang Dirlam: Ja, also. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Siegfried nimmt in seinen Erklärungen eine bewusste Verleumdung unseres sozialistischen Staates vor. Er verleumdet böswillig den Staat... Die Haltung von Fuchs und Siegfried zur Staatssicherheit, das ist eine Verleumdung unserer Staatssicherheitsorgane! Ich würde vorschlagen, den Leuten dort einen kleinen Tipp zu geben...

Auf "Staatsverleumdung" standen mehrere Jahre Gefängnis. Die Versammlungsleiterin und FDJ-Sekretärin der Seminargruppe, Petra Nichelmann, sorgt dafür, dass ich fast nicht mehr zu Wort komme. Der Versuch, ein Papier Santiago Carrillos, des Generalsekretärs der spanischen Euro-Kommunisten, zu Prag ‘68 zu diskutieren, der nicht nur Zweifel an der seinerzeitigen "brüderlichen" Hilfe äußert, sondern die militärische Invasion verurteilt, wird unterbunden. (Niemand wagt nach dieser Versammlung mehr, mit mir zu sprechen oder gar um Carillos Text zu bitten.) Spanien löst Assoziationen aus, es ist die Zeit lateinamerikanischer Revolutionsromantik, was Jugendfreundin Uta Brückner dazu veranlasst, ein argentinisches Sprichwort zum Besten zu geben: "Jedes Schwein wird einmal geschlachtet". Der Exmatrikulationsantrag wird angenommen.

Bis heute haben sich nicht entschuldigt. Sie haben ihre Karrieren gemacht.

Man sandte noch am selben Tag den Exmatrikulationsantrag an den Direktor für Erziehung, Aus- und Weiterbildung (EAW) der FSU und beantragte die "sofortige Beurlaubung", da "es die FDJ-Gruppe für unmöglich (hält), bis zur endgültigen Exmatrikulation gemeinsam mit Herrn Reiprich Lehrveranstaltungen zu besuchen". Unterschrieben haben Petra Nichelmann, "FDJ-Sekretär", F. Haney, Sektionsleitung der FDJ, Dr. M. Höfer, Leiter des Studienjahres, Dr. W. Berg, "Stellv. EAW" - also drei Funktionäre und gerade ein Mitglied der Gruppe. Aus dem Antrag in Sachen Reiprich:

"Seine, in der Begründung des Studienwunsches 1974 begründeten Gedanken - er beteuert darin seine Leidenschaft zu Marx und Engels - erscheinen unter den gegebenen Bedingungen als Phrasen und als Deckmantel für seine halbillegale Tätigkeit (sonst hätte er der Sektion vor der Immatrikulation seine neuen Einstellungen und Verhaltensweisen mitteilen müssen)... Verallgemeinernd sind seine Auffassungen als anarchistischer Existentialismus zu bezeichnen. Herr Reiprich unterstellt in seinem Dokument, dass er erpresst und unter Druck gesetzt werden solle... Da wir niemanden erpressen und unter Druck setzen, da bereits zum Zeitpunkt der Immatrikulation die Bedingungen für ein Philosophiestudium nicht mehr gegeben waren, Herr Reiprich es aber unterließ, die Sektion davon zu unterrichten und wegen der oben dargestellten Sachverhalte beantragen wir die sofortige Exmatrikulation."

Trotz des Drucks hatte es bei der Abstimmung über den Exmatrikulationsantrag eine Studentin gewagt, dagegen zu stimmen, Silvia Lengauer. Sie musste nun bearbeitet werden. FDJ-Leitung und Parteigruppe werteten die Versammlung aus.

[Dokument 1 - Faksimile Mitteilung in Sachen Lengauer von Dir. Alexander und PGO Obst]

Der amtierende Sektionsdirektor Dr. Alexander wurde später Professor und Sektionsdirektor, der Parteigruppenorganisator Hans-Joachim Obst mauserte sich vom "perspektivischen Kaderhinweis" des MfS zum IMS "Sascha", Registriernummer X 396/76. Eine Verpflichtungserklärung liegt vor. Nach Studienabschluß wurde er als hauptamtlicher FDJ-Sekretär bei den Medizinern eingesetzt. Seine IM-Akte wurde 1988 archiviert, weil er in die Bezirksleitung der SED Gera aufgestiegen war. Nach seiner Hochzeit nahm er jedoch den Namen seiner Frau an und heißt von nun an Erhardt.

[Dokument 2 - Faksimile BSTU-Kopie Einschätzung zur Person Ehrhardt, Hans-Joachim]

Sylvia Lengauer, die bewiesen hatte, dass Zivilcourage möglich war, ist "nichts weiter passiert". Sie wechselte später das Studienfach.


Analogie: Fall Rathenow

Lutz Rathenow schrieb am 23.2.76 an die Sektion Philosophie:

Sehr geehrte Sektionsleitung! Wie mir bekannt wurde, bestehen gegen den Studenten Siegfried Reiprich von Seiten der Sektion Philosophie Vorbehalte betreffs seiner politischen Einstellung. Dies wurde ihm gegenüber unter anderem mit dem Hinweis begründet, dass ein ehemaliges AK-Mitglied (Arbeitskreis Literatur) behauptet habe, Siegfried Reiprich wolle an der Sektion testen, wieweit man politisch gehen könne.
Hierbei kann es sich nur um die entstellte Wiedergabe eines aus dem Zusammenhang gerissenen Satzes handeln, den ich in einem Gespräch der Studentin Petra Strehle gegenüber äußerte. Hierzu möchte ich eindeutig feststellen, dass es bei jenem fraglichen Gespräch in der Mensa um Probleme ging, die im letzten Buch Volker Brauns aufgeworfen wurden, und die meiner Meinung nach im größeren Kreis diskutiert werden sollten. Jede andere Darstellung des Gespräches, die letztlich darauf hinausläuft, Siegfried Reiprich politisch zu disqualifizieren, ist eine böswillige Verzerrung des Sachverhaltes.

Ich wäre gern bereit, alle Unklarheiten diesbezüglich in einem persönlichen Gespräch mit Vertretern der Sektion Philosophie zu bereinigen. Von der Studentin Petra Strehle erwarte ich eine Richtigstellung und Entschuldigung gegenüber Siegfried Reiprich, seiner Seminargruppe, der FDJ-Leitung der Sektion. Anderenfalls sehe ich mich genötigt, Strafanzeige wegen böswilliger Verleumdung zu erstatten.

Ferner hörte ich, dass Siegfried Reiprich Aktivitäten innerhalb des inzwischen aufgelösten AK Literatur zum Vorwurf gemacht werden. Auch scheinen Äußerungen wie "der Arbeitskreis war in der Tendenz reaktionär" im Umlauf zu sein. Derartige Verleumdungen widersprechen den mir übermittelten Einschätzungen vom Referenten für Literatur beim Rat des Bezirkes Gera und vom Leiter der Abteilung Kultur beim FDJ-Zentralrat. Letzterer (Jugendfreund Gluschke) wies darauf hin, dass der Zentralrat nach wie vor Interesse habe, mit ehemaligen Arbeitskreismitgliedern (auch mit Siegfried Reiprich) weiterhin, innerhalb und außerhalb der Poetenbewegung, zusammenzuarbeiten.

Mit vorzüglicher Hochachtung -

Lutz Rathenow !


Ein persönliches Gespräch mit Vertretern der Sektion Philosophie kam nicht zustande, statt dessen wurde er selbst zur Stellungnahme genötigt. Die Parteileitung der SED-Grundorganisation Historiker nimmt am 2.3.76 Stellung gegenüber der Universitätsparteileitung Stellung und verweist darauf, dass "Auseinandersetzungen mit Herrn Rathenow im Grunde seit dem 1. Studienjahr geführt werden." Nun soll er wegen seines Solidaritätsbriefes in Sachen Reiprich selbst folgende vier Fragen schriftlich beantworten, wie der Direktor der Sektion Geschichte, Prof. Siegfried Schmidt am 15.3. an den Genossen Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Prof. Schützenmeister, schreibt:

"1. Wie sind Sie Ihrer politischen Verantwortung als Geschichtslehrerstudent bei Ihrer Tätigkeit im AK Literatur gerecht geworden?"
2. Warum er nicht Reserveoffizier der NVA werden wolle

"3. Inwieweit halten Sie sich für fähig, die Forderung des Studienplanes..., ‘die Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung zielstrebig zu verwirklichen' vorbehaltlos in Ihrer Tätigkeit als Geschichtslehrer zu erfüllen? "

"4. Wie bewerten Sie das politische Gewicht Ihres Briefes an die Leitung der Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie?"


Auf der Grundlage seiner schriftlichen Stellungnahme findet am 17.3. eine Aussprache unter der Leitung des Sektionsdirektors statt, in deren Ergebnis "weitere Schritte festgelegt werden." Nun hängt auch über Lutz Rathenow das Damoklesschwert der Exmatrikulation.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Bericht über die dann tatsächlich erfolgte "knapp zweieinhalbstündige Aussprache" mit Lutz Rathenow vom 17.März 1976. Staat, Partei bzw. ihre Jugendorganisation betreiben beachtlichen Aufwand: Die Seminargruppenberaterin Gertrude Remer, die FDJ-Funktionäre Kerstin Paust und Werner Kaiser, sowie die Professoren S. Schmidt und M. Weißbecker, befragen den eigenwilligen Studenten. Bedenkt man, dass dieses informelle Gremium quasi-vorgerichtliche Macht hatte, in den Lebenslauf des ohne Verteidiger Dastehenden eingreifen zu lassen, dass hier sozusagen gesinnungsstaatsanwaltliche Ermittlungen nicht-öffentlich durchgeführt wurden, so werden Strukturen eines totalitären Parteistaates deutlich.

"Herrn Rathenow wurde mitgeteilt, dass wir seine Antworten auf die vier Fragen als rasch hingeworfen, überheblich und sowohl theoretisch wie formal unter seinem Niveau blieben und einige grundlegende Probleme offenließen." (Originaltext) Er taktiert geschickt, sagt zu Frage vier, dass es ihm mit seinem Brief an die Sektion Philosophie "nicht um eine Stellungnahme für Herrn Reiprich, hinter dessen politische Äußerungen er sich nicht stellen wolle", gehe, jedoch sogar der Zentralrat der FDJ "für das Verbleiben von Herrn Reiprich in der Poetenbewegung" sei (s.o.). "Die antisozialistischen Positionen von Herrn Reiprich seien ihm noch nicht bewiesen worden. Er lehnt eine undifferenzierte Kritik an Reiprich, Fuchs u.a. ab und fordert eine differenzierte Wertung" und lehnt eine "klare Distanzierung" ab.

Der Satiriker in Lutz Rathenow kommt zum Vorschein, als er begründet, warum er nicht Reserveoffizier der Armee (ROA) werden will:

"Er fühle sich unfähig, Offizier zu sein... Er geht zwar von der objektiven Notwendigkeit aus, dass aus den Reihen von Hochschulkadern Reserveoffiziere ausgewählt werden, aber er möchte selbst dieser Forderung der Gesellschaft nicht entsprechen. Den Hinweis auf den Widerspruch in seinem Verhalten beantwortete Herr Rathenow, dass er diesen Widerspruch nicht leugnen könne. Er sehe darin aber kein Problem seiner prinzipiellen politischen Haltung. Die Schwierigkeit sei vor allem die Art, wie der Offizier wirkt.. Er sei nur dann bereit, ROA zu werden, wenn die Armee vor dem Zusammenbruch steht. Das sei aber jetzt nicht der Fall."

Eine solche Weigerung allein hätte wohl nicht zur Exmatrikulation gereicht, wohl aber zum Karriereknick. Z.B. hatte 1979 der Lehrerstudent für Mathematik und Physik an der FSU Jena, Thomas Rödel, das Studium mit so guten Ergebnissen abgeschlossen, dass sein Professor ihm die Möglichkeit der Promotion anbot. Da er jedoch die Forderung, Reserveoffizier der NVA zu werden, mit der Begründung "ich fühle mich dazu nicht reif genug" ablehnte, durfte er auch nicht promovieren.

Im zitierten Bericht über Rathenow wird insbesondere immer wieder erörtert, ob ein Einzelner das Recht auf Kritik an der Linie des ZK der SED habe. Man kommt nicht so recht voran.

"Herrn Rathenow wurde mitgeteilt, dass in allen besprochenen Punkten... das Ergebnis als unbefriedigend bezeichnet werden muss... Herrn Rathenow wurde deutlich gemacht, dass es um die von uns zu beantwortende Frage geht, welche Absolventen entlassen wir in die Schule. Wir erwarten von Herrn Rathenow klare Positionen und konkrete, nicht nur verbale Schlussfolgerungen:
1. Zu seiner Stellung zur Politik und Taktik der Partei, vor allem in der Realisierung auf dem Gebiet der Volksbildung und der kommunistischen Erziehung der Jugend.

2. Eindeutige Entscheidungen auf dem Gebiet der Literatur und offene Distanzierung von Leuten wie Fuchs und Reiprich, deren antisozialistische Betätigung belegt ist.

3. Es muss eine Entscheidung in der ROA-Frage bei ihm fallen."


Hier wird klar, dass auch ein parteiloser Lehrer zuerst ideologischer Pädagogikfunktionär der Partei zu sein hatte, bevor er Lehrer sein durfte. Interessant ist auch (Punkt 2.), dass eine antisozialistische Betätigung auch bei Reiprich als belegt bezeichnet wird, obwohl das offizielle Verfahren gegen meine Person noch gar nicht statt gefunden hatte - von Unschuldsvermutung keine Spur.

"Die Diskussion mit Herrn Rathenow wird am Dienstag, dem 23. März 1976 in seiner FDJ-Gruppe weitergeführt. Die Versammlung wird von der staatlichen Leitung und der FDJ gemeinsam einberufen und durchgeführt." So endet die Niederschrift von Prof. Dr. Siegfried Schmidt. Lutz Rathenow hatte jedoch mehr Glück mit seiner FDJ-Gruppe, dass ideologische Klima war bei den Historiker schon etwas toleranter als bei den M-L-Philosophen. Einige Kommilitonen stellten sich auf seine Seite. Auch hatte der Schriftsteller Volker Braun sich "von oben", d.h. in Verbindung mit der Parteileitung der Universität, für uns beide eingesetzt. Für mich kam die Intervention zu spät, Lutz Rathenow konnte sich aber noch ein Jahr an der Universität halten. Er wurde im März 1977, kurz vor Erreichen des Diploms, wegen "Zweifel an Grundpositionen" zwangsexmatrikuliert.

Analogie: Fall Jahn

Roland Jahn hatte ich bereits an der Erweiterten Oberschule "Johannes R. Becher" in Jena als kritischen Geist kennengelernt. Er hatte ein Jahr vor mir, 1972, das Abitur gemacht und war wegen Forderungen nach Meinungsfreiheit - "Ich sage was ich sehe" - und dem Recht auf Individualität aufgefallen. Es war die Zeit, als erstmals langhaarige Jugendliche nicht mehr von den Schulen gewiesen worden, ihnen das Abitur nicht verwehrt wurde. Roland spielte im FDJ-Schulfunk den poetisch verschlüsselten und von der neuen kulturpolitischen Linie getragenen Protestsong der Rockgruppe "Die Pudhys" "Geh' dem Wind nicht aus dem Wege". Da hieß es: "Was einer im Kopf hat zählt/ nicht die Haare und auch nicht der Hut".

Er studierte in Jena Wirtschaftswissenschaft. Anlässlich der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 war auch für ihn die "Stunde der Wahrheit" gekommen. Wir alle beteiligten uns an den Protesten gegen diese "Maßnahme" von Partei und Staat. Es kam zu Verhaftungen, an die 50 junge Leute in Jena wurden geholt, auch Lutz Rathenow, der aber, wie die meisten, bald wieder freigelassen wurde. Sieben Freunde blieben in Haft. Die Stasi plante, auch Roland Jahn, seine Freundin Gudrun Zöllner und mich zu verhaften. Ein Spitzel hatte berichtet: Zöllner habe Gedächtnisprotokolle von Reiprichs Uni-Rausschmiss auf einer Dienstschreibmaschine vervielfältigt, die dieser im Untergrund verteilte, Jahn vertrete das Sozialismusmodell Prag ‘68 und Reiprich überzeuge ihn mehr und mehr dahingehend, statt evolutionärer eher revolutionäre Veränderungen der DDR anzustreben - so die Stasiakten.

Zur Verhaftung kam es dann doch nicht (die Inhaftierten wurden 1977 ohne Prozess nach Westberlin abgeschoben, darunter auch Jürgen Fuchs), wohl aber zur politischen Exmatrikulation Rolands Jahns. Das Muster war ähnlich wie bei Reiprich und Rathenow. Er wurde in Diskussionen verwickelt, man beleuchtete die Aktenlage: "Bereits sein Abiturzeugnis ließ Schwächen in seiner politischen Haltung erkennen. Als einziger Student der Sektion hat er sich nicht bereit erklärt, Reserveoffiziersanwärter zu werden", wie der Disziplinarausschuss der FSU schrieb. Er sollte eine schriftliche Stellungnahme zur Biermann-Affäre abgeben.

Ich erinnere mich noch gut, wie wir über die Taktik diskutierten. Sollte man lieber mit fliegenden Fahnen untergehen, oder "herum eiern", d.h. nach der oft praktizierten Methode vorgehen: Nicht alles sagen, was man denkt, aber nichts sagen, was man nicht denkt? Als einer, der ja schon rausgeflogen war, neigte ich eher zum heroischen Untergang, was allerdings auch leicht im Gefängnis hätte enden können. Schließlich waren wir keine prominenten und privilegierten Künstler, gehörten nicht der "nichtfolterbaren Klasse" an. Stasipläne im Hintergrund wurden geschmiedet, wir konnten dies aber bestenfalls erahnen.

Roland wollte es noch einmal mit einer differenzierten, "dialektischen" Stellungnahme versuchen, was ja auch bei Lutz Rathenow zumindest Zeitgewinn brachte. Er sagte:

"Es ist notwendig, dass jeder seine Meinung frei und ehrlich äußert. Ich bin der Meinung, man müsste die Aberkennung der Staatbürgerschaft des DDR-Bürgers Wolf Biermann noch einmal überdenken. Biermann hat sich kritisch, scharf und verallgemeinert über die DDR geäußert. Er zeigt richtig einige Schwächen in unserem Land auf, begeht dabei den Fehler, sie zu schaft verallgemeinert und unrealistisch darzustellen. Ich sage meine Meinung offen und ehrlich, damit auch mir meine Fehler gezeigt werden können."

Staat, Partei und FDJ versuchten wieder, der schon beschlossenen Exmatrikulation einen demokratischen Anschein zu geben:

"Auf Anraten der Uni-Partei-Leitung (Dr. Tennigkeit) wurde die Realisierung der von der Sektionsleitung beschlossenen Exmatrikulation Roland Jahns für den Zeitpunkt festgelegt, wenn die Studenten seiner Seminargruppe zur Einsicht der politischen Notwendigkeit der Exmatrikulation gekommen sind... Erst nach einer ausführlichen Diskussion, die die Genossen Prof. Dr. Mühlfriedel, AOL-Sekretär Blum und ML-Seminarleiter Horst mit dem aktiven Teil der Gruppe am 4. 1. 1977 und mit der Gesamtgruppe am 5. 1. 1977 führten, setzte sich das Ja der Gruppe zur Exmatrikulation Roland Jahns durch."

So gab es Prof. W. Mühlfriedel zu Protokoll. Die staatliche Leitung hatte beschlossen, die Kommilitonen mussten noch Ja sagen und hierfür von oben bearbeitet werden. "Nicht alle Studenten der Seminargruppe kamen aus eigener Kraft zu dieser Einsicht", vermerkte das Protokoll. Zuerst nahm man sich den "aktiven Teil der Gruppe" vor. "Aktiv" bedeutet hier nicht etwa ich-stark, individuell, nein, es war das politische "Aktiv", die SED-treuen Konformisten. Dann kam der passive Rest dran, d.h. diejenigen, die sich den Zumutungen der Erziehungsdiktatur lieber entzogen. Man darf nicht vergessen, dass sich die Studenten und Studentinnen der DDR in einem existentiellen Abhängigkeitsverhältnis zum "Lehrkörper" befanden. Sie hatten z.B. unterschrieben, später als Absolventen für drei Jahre dort zu arbeiten, wo der Staat, d.h. die Autoritäten der Universität, sie hinschickten.

In der Verfassung der DDR hieß es jedoch, kein Arbeits- oder Dienstrechtsverhältnis dürfe durch die Ausübung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt werden (§27). Am 25. Februar 1977 wurde Roland Jahn zum "Ausschluss vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen der DDR" verurteilt.

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