Zu den Mechanismen ideologischer Disziplinierung an DDR-Universitäten

V. Gesinnungsverbrechen zum dritten: Disziplinarausschuss als Partei-Gericht ohne Verteidiger

Steuerung von oben, Abblocken einer Eingabe

Solche Vorgänge wurden auf derart groteske Weise ernst genommen, dass wir sie uns damals gar nicht vorzustellen wagten. Man wäre in Gefahr geraten, größenwahnsinnig zu werden. Zurück zum Fall Reiprich, ein halbes Jahr vor der Biermannausbürgerung.

Am 17.3.1976 schrieb Prof. Dr. Fischer, Direktor für Erziehung, Aus- und Weiterbildung der Friedrich-Schiller-Universität, an das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen in 102 Berlin, Marx-Engels-Platz 2:

"Sehr geehrter Genosse Dr. Fiedler!
In Absprache mit dem Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Genossen Prof. Dr. Schützenmeister, wurde festgelegt, Sie als stellvertretenden Minister (Herv. S.R.) über den bisherigen Verlauf der Disziplinarmaßnahmen gegen den beurlaubten Studenten der Sektion Philosophie, Herrn Siegfried Reiprich, zu informieren. Dabei möchte ich vorausschicken, dass der Abteilung Information beim Ministerium bereits vor 2 Wochen die entsprechenden Unterlagen durch den 1. Prorektor, Genossen Prof. Dr. Keßler, übergeben wurden. Diese Übergabe erfolgte auf Veranlassung des Ministeriums.

Aus gegenwärtiger Sicht kann Ihnen folgendes mitgeteilt werden: Auf Antrag der staatlichen und der FDJ-Leitung der Sektion Philosophie leitete der Rektor der Universität am 26.2. 1976 gegen Herrn Reiprich ein Disziplinarverfahren wegen Schädigung des Ansehens der Universität in der Öffentlichkeit ein..."

Reiprich habe eine Eingabe an das Ministerium gerichtet, die jedoch vom stellvertretenden Minister an die FSU Jena zur Bearbeitung zurückgegeben worden sei. Eine Antwort auf diese Eingabe sei durch den Jenaer Prorektor Schützenmeister an das Ministerium bereits erfolgt.

"Darin wird zum Ausdruck gebracht dass nach Abschluss des Verfahrens am 22. 3. 76 der Minister sofort über die getroffenen Entscheidungen informiert wird."

Ich hatte darauf hingewiesen, dass nach §6 und §7 der Disziplinarordnung nach einem Antrag auf ein Verfahren, der Sachverhalt zu ermitteln und zu diesem Zweck der Beschuldigte zu hören sei. Dies sei unterlassen worden. "In meinem Fall jedoch wurde am 25.2. der Antrag auf ein Verfahren gegen mich gestellt und dieses am 26.2. eröffnet. Dauerte das Ermittlungsverfahren nur einen Tag, und warum bekam ich keine Gelegenheit, um meine Einwände... vorzubringen?"

Am 17.3. antwortete ein Vertreter der Universität, nicht des Ministeriums:

"Ich teile Ihnen mit, dass Ihre Eingabe, die Sie dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen überreicht haben, durch den Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Herrn Prof. Dr. Schützenmeister zwischenzeitlich an den Minister beantwortet wurde. Darin ist dargelegt, dass bis zum Abschluss des Verfahrens durch den Minister kein Eingriff in die laufenden Verhandlungen vorgenommen wird."

Also: auf die Eingabe in Sachen Universität gegen Student an das Ministeriums antwortet der Vertreter der Universität an den Minister, und legt dar, dass durch den Minister nicht in das Verfahren eingegriffen wird. Aber wer traf diese Entscheidung?

Disziplinarverhandlung

Die Disziplinarverhandlung findet am 22. März 1976 im UNO-Raum der Sektion Staats- und Rechtswissenschaft unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Paul statt. Der Disziplinarausschuss sitzt dabei im Halbkreis hinter Tischen, der Beschuldigte bekommt einen Platz in der Mitte des Raumes auf einem einsamen Stuhl zugewiesen. Juristischen Bestand gibt es nicht. Es wird mir untersagt, Notizen, etwa zur Vorbereitung einer Beschwerde, zu machen. "Protokoll führt die Sekretärin. In der Disziplinarordnung steht nirgends, daß Ihnen das gestattet ist, stecken Sie das jetzt weg!", so Prof. Paul. Mein Argument, es sei laut Disziplinarordnung aber auch nicht verboten, wird beiseite gewischt.

Der o.g. Antrag auf Exmatrikulation wird verlesen, ich hatte ihn nicht einsehen können (dazu würde ich noch bis 1991 warten müssen). Der Vorsitzende Paul teilt mit, die Sektion habe den Antrag noch präzisiert, sie beantrage nicht Exmatrikulation, sondern nur zeitweiligen Ausschluss. Vielleicht hat sich in der Zwischenzeit doch etwas getan, "von oben", fragt sich der Beschuldigte. Aber die Verhandlung nimmt schnell einen sehr autoritären Verlauf und endet mit dem Entzug des Wortes und der brüllend vorgebrachten Aufforderung, den Saal zu verlassen, weil ich mich hartnäckig auf §27 der Verfassung (Meinungsfreiheit) berufe und nach politischen Beleidigungen dieses Verfahren als Verfassungsbruch bezeichne.

Die mir nun vorliegenden Unterlagen der Universität, Protokoll und Urteil, stellen natürlich nur die Sichtweise der staatlichen bzw. SED-Gremien dar. Wer sich für die Sicht beider Seiten interessiert, möge bitte mein o.g. Bändchen einsehen. Hier soll wenigstens eine Kostprobe aus dem Gedächtnisprotokoll der Verhandlung gegeben werden. Es handelt sich um eine der ruhigeren Passagen.

"Dr. Berg: ...Wir haben erst letzte Woche von einem weiteren schwerwiegenden Sachverhalt verfahren. Ich will das hier nur noch schnell mitteilen. Herr Reiprich hat im August 1974 mit noch vier weiteren Mitgliedern des Lyrikzirkels das zentrale Poetenseminar der FDJ in Schwerin demonstrativ verlassen. Sie solidarisierten sich mit Herrn Markowski, der ausgeschlossen wurde, weil er in einer Kaserne der NVA Biermannlieder gesungen hatte! Wir wissen ja nicht, wer noch dabei war - Herr Rathenow, Herr Markowski und vielleicht noch Herr Lehmann. Demonstrativ abgereist! Solch eine Haltung! Also über so etwas können wir nicht mehr diskutieren, das war uns klar. (beifälliges Nicken von Paul) Wir haben wirklich in freundschaftlicher Weise mit Herrn Reiprich geredet, aber er hat ja keinen Ansatz von Nachdenken gezeigt. Schon in der ersten Aussprache am 6.1. hat er Haltungen offenbart, z.B. den Staat verleumdet, indem er eine an ihn herangetragene Bitte abgeschlagen hatte und behauptete, ihm sei zugemutet worden, gegen Geld seine Freunde zu bespitzeln. Also da sage ich mir, dass wir darüber auch nicht mehr diskutieren! (beifälliges Nicken von Paul)! ...
S. Reiprich: Was Sie, Herr Dr. Berg, zu Schwerin gesagt haben, entspricht nicht dem Sachverhalt. Wir sind nicht aus Spaß und lauter Freude abgereist, wir wären gern dageblieben. Aber wir sind dort rausgeschmissen worden. Und Bernd Markowski hat auch nicht in einer Kaserne Biermannlieder gesungen, sondern er hat ein Kinderlied von Biermann auf einer Veranstaltung, wo jeder etwas beitragen konnte und sollte, gesungen. Über den Inhalt des Liedes wurde gar nicht diskutiert, sondern er wurde gleich abgestempelt. Wenn ein Kinderlied schon als Staatsbedrohung aufgefasst wird, dann
Prof. Dr. Paul: (unterbricht) Weshalb mussten Sie denn gehen?

S. Reiprich: Weil wir uns nicht von Markowski distanziert haben.

Prof. Dr. Paul: Aber das bleibt sich doch gleich, ob Sie nun gegangen sind oder gegangen wurden, oder sogar rausgeschmissen, wie Sie sagen. Ich hätte an Stelle der Veranstalter auch nicht anders reagiert. Was für ein Lied es gewesen ist, ist doch egal, und außerdem war es doch nicht irgendein harmloses Kinderlied.

S. Reiprich: Oh, ich kann Ihnen den Text gerne vorlegen! (Es handelte sich um André Francois der Friedensclown.)

Prof.Dr. Paul: Der Name Biermann genügt jedenfalls schon."

Ich hatte gehofft, man würde nicht auf die Schweriner Geschichte kommen - die Stasi wusste davon. Nun war alles zu spät.

Aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung, bei der alle außer dem Beschuldigten SED-Mitglieder waren:

"Es erschienen:
Herr Prof.Dr.habil. Paul als stellv. Vorsitzender Herr Prof. Fischer, Dir. EAW Herr Dr. Alexander als amt. Sektiondirektor Herr Dr. Berg, stellv. Direktor für EAW der Sektion Philosophie Herr Dr. Höfer als FDJ-Gruppenberater Herr Dr. Wächter - 1.Sekretär der FDJ-HSGL Herr Dr. Ludwig als Vertreter der UGL (Gewerkschaftsleitung, S.R.) Fräulein P. Nichelmann als Vertreter der FDJ-Gruppe Frau S. Börner als Vertreter der FOL

Herr Reiprich als Beschuldigter

Der Vorsitzende trug den Antrag der Sektion Philosophie auf Einleitung eines Disziplinarverfahrens vor. Er beantwortete die schriftliche Anfrage des Beschuldigten, warum kein Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde, dahin, dass dafür keine Notwendigkeit gegeben war, weil die Sachlage hinreichend geklärt erschien. Im Anschluss wies er den Beschuldigten darauf hin, dass vor allem zu den im Antrag vorgetragenen Anschuldigungen hinsichtlich der Äußerungen zu Problemen unserer Nationalen Volksarmee und des Eingreifens der sozialistischen Bruderarmeen anlässlich der konterrevolutionären Ereignisse in der CSSR seine Stellungnahme erwartet werde.

Der Beschuldigte äußerte dazu, dass er zunächst feststellen müsse, dass die Art und Weise, wie die ‘Anklage' vorgebracht werde, dem entspreche, wie bisher gegen ihn vorgegangen worden sei. Seine Meinung sei, dass die Arbeiten von Fuchs keinen antisozialistischen Charakter tragen. Der Ausschluss vom Studium und der SED sei deshalb nicht begründet. Fuchs habe bei diesen Arbeiten wie ‘das Fußballspiel' u.ä. versucht, ‘wirkliche Probleme literarisch zu gestalten'...

Zur CSSR-Frage führte er aus, er habe gesagt, dass für ihn die Frage offen sein, ob ein Mann wie Dub ek konterrevolutionär sei, oder ob er nicht im positiven Sinne gehandelt habe. Genossen einiger kommunistischer Parteien hätten dazu eine andere Auffassung als die Genossen der DDR. Deshalb könne man Dub ek nicht als einen Konterrevolutionär abstempeln. Er halte ihn deshalb für einen ehrlichen Kommunisten, der das Beste gewollt habe.

Zur Politik der SED bemerkte er, er halte die SED für eine Partei, in der jeder Mensch versuche, sich den Marxismus-Leninismus anzueignen, sich aber eine eigene Meinung bilden müsse. So habe die SED beispielsweise eine andere Meinung als die KP Spaniens.

Die Angehörigen der Sektion Philosophie berichteten eingehend über die mit dem Beschuldigten gehabten oft stundenlangen Aussprachen... Er habe stur auf seiner ausgesprochen klassenfeindlichen Position beharrt...

Der Beschuldigte nahm zu den einzelnen Vorhaltungen Stellung. Hier bestätigte sein Auftreten die seitens der Sektion gegebene Einschätzung voll und ganz. Seine sämtlichen Äußerungen lassen sich dahin zusammenfassen, dass er alles, was bisher von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Regierung der DDR getan wurde, anzweifelte und sich das Recht herausnahm, zu all den in Parteitagen und Plenartagungen des ZK geklärten Problemen eine eigene, davon abweichende Auffassung zu haben. Er und seine Freunde seinen die einzigen, die sich wirklich Gedanken machten über die Lösung der Probleme. Alle die hier säßen - gemeint waren die Mitglieder des Disziplinarausschusses - und die Mitglieder der Partei, befolgten ohne nachzudenken und ohne innere Überzeugung von der Richtigkeit alles, was von der Partei beschlossen werde.

Der Vorsitzende entzog ihm wegen dieser Ausfälle das Wort und erklärte die Verhandlung für geschlossen. Er ersuchte den Beschuldigten, vor dem Verhandlungsraum zu werten bis die Entscheidung verkündet werde. Der Beschuldigte wurde darauf beleidigend gegen den Vorsitzenden durch Äußerungen wie...: ‘Sie beleidigen die Verfassung', ‘was Sie hier machen ist verfassungswidrig' u.a... Es bedurfte... mehrerer energischer Aufforderungen, ehe er den Sitzungssaal verließ."

Nach geheimer Beratung wurde der Beschluss des Disziplinarausschusses verkündet: Ich wurde zum "Ausschluss vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen der DDR" verurteilt. Die Begründung des Urteils wurde mir nicht ausgehändigt. Ich durfte sie später kurz einsehen, wieder, ohne Notizen machen zu dürfen. Deshalb lernte ich sie auswendig, schrieb den Text sofort nieder und sandte ihn später an den Direktor EAW der FSU, Prof. Fischer, mit der höflich formulierten Bitte um Bestätigung der sinngemäßen Richtigkeit zwecks Beschwerdeführung. Sicher wurde mir dies wieder als "überheblich" angekreidet.

Im Samisdat veröffentlichte ich den aus dem Gedächtnis niedergeschriebenen Text, ebenso in meinem Buch. Er ist mit dem Original, dass nun vorliegt, fast identisch. Hier noch ein kurzer Auszug:

"Bei dem Beschuldigten handelt es sich um einen intelligenten, aber völlig fehlgeleiteten jungen Menschen. Er steht offenbar unter dem Einfluss einer unserer Arbeiter- und Bauernmacht feindlich gesinnten Gruppe, die jede Gelegenheit wahrnimmt, um gegen unseren Arbeiter- und Bauern-Staat zu hetzen... Eine solche Geisteshaltung, wie sie der Beschuldigte offenbart, schließt ein Studium, ganz gleich welcher Fachrichtung, aus.
Unsere sozialistische Gesellschaftsordnung braucht Menschen, auf die sie sich in jeder Situation verlassen kann. Der Beschuldigte hat dagegen bisher alles getan, um Zweifel an der Richtigkeit er Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu erwecken. Mit einer solchen Einstellung und einem solchen Auftreten ist es unvereinbar, ein Universitätsstudium zu absolvieren und dann eine leitende Funktion in unserem Arbeiter- und Bauern-Staat einzunehmen...

Diese Entscheidung bedeutet nicht, dass er bei einer positiven Entwicklung nicht die Möglichkeit hätte, erneut um die Zulassung zu einem Studium nachzusuchen. Das setzt aber einen Prozess der inneren Wandlung voraus, der sicher einige Jahre in Anspruch nehmen wird. Nur wenn auf Grund der erbrachten Leistungen in der Arbeit und der gesellschaftlichen Tätigkeit die volle Überzeugung besteht, dass er seine bisherige Position aufgegeben hat, könnte ein solcher Antrag mit Aussicht auf Erfolg geprüft werden...

gez. Prof. Dr. habil. Paul"

Die Vertreter der sozialistischen Intelligentjia haben natürlich die Arbeiter und Bauern nie gefragt, wessen Interessen derjenige vertrat, der den "Dialog der Philosophen mit den Arbeitern" forderte. Er musste sich nun "in der Produktion bewähren", was keine so schlechte Erfahrung werden sollte. Eine Wiederaufnahme des Studiums war jedoch an für denjenigen unerfüllbare Bedingungen geknüpft, der versuchen wollte, in der Wahrheit zu leben. So machte es praktisch keinen Unterschied, ob der Ausschluss unbegrenzt oder zeitweilig erfolgte. Er war jedenfalls unbefristet.

Ich schrieb eine Eingabe an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker. Daraufhin kam es zu einem Gespräch mit einem SED-Funktionär unter vier Augen. Auf Jürgen Fuchs' Rat hin, der mit Robert Havemann und Wolf Biermann immer noch an SED-interne Reformchancen glaubte, verzichtete ich darauf, Notizen zu machen. Der Funktionär von der Bezirksleitung Gera versicherte mir, er werde persönlich dafür sorgen, dass ich nie wieder studieren könne.

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